Festrede Lena Gorelik
Liebe Gesa Husemann, liebe Anna-Lena Markus, liebe Anja Johannsen, liebes Team des Literarischen Zentrums,
Liebe Anwesende,
Ich muss, ehrlicherweise, damit beginnen: Ich bin nicht unbefangen, wenn ich heute hier spreche. Ich bin aufgeregt und irgendwie gerührt, ich bin demütig, und froh bin ich auch. Ich bin nicht unbefangen aus vielerlei Gründen.
1. Ich bin nicht unbefangen, weil ich Bücher liebe.
Mit der Literatur verhält es sich so: Sie trägt unzählige Orte in sich. Winzige Zimmer, wie das, in dem Gregor Samsa eines Morgens, völlig überrascht, als Käfer erwachte; kleine Dörfer, in deren Begrenztheit sich wie in einem Mikrokosmos die Welt wiederspiegelt, in denen alles enger und deshalb noch dichter scheint wie in Herta Müllers “Herztier” zum Beispiel. Große Städte, die bereits in den Titeln locken wie Reisewerbung - “Berlin Alexanderplatz”, “New York-Trilogie”, “Damaskus im Herzen”, “Karl Marx in Algier”; ganze Länder, Kontinente, Meere und Ozeane, Planeten, ach was, das gesamte Universum. Unzählige Orte sind zwischen Buchdeckeln für uns gefangen worden, von Sprache eingefangen, damit wir sie sehen können, obwohl wir nur auf Buchstaben starren; wir sitzen im Sessel, im Zug, starren auf schwarze Striche und Bögen und sehen an ihrer Stelle all jene Zimmer, Dörfer, Städte, Planeten. Obwohl Literatur von all den ungezählten Orten erzählt, hat sie selbst nur wenige Orte. Wo könnte ihr Zuhause sein?
Als Kind hielt ich Bibliotheken für heilige Räume und Buchhändler:innen für die glücklichsten aller Menschen. Ich war mir sicher, sie haben das größtmögliche Glück gepachtet - sich jedes Buch - jederzeit - greifen zu können; ich staunte, dass Arbeit, dieses gefürchtete Wort aus der Erwachsenenwelt, auch so etwas sein kann: sich zwischen Büchern zu bewegen, Tag für Tag.
Die Bibliothek war der Buchläden wundersames und zugleich auch trauriges Abbild. Wundersam: Das Schönste an Bibliotheksbesuchen war das Betreten und Verlassen dieses Ortes. Ich betrat ihn jedes Mal, auch wenn ich es phasenweise mehrmals die Woche tat, mit klopfendem Herzen. Es klopfte, weil ich wusste: Ich kann. Ich kann, wenn ich will, jedes Buch, das hier steht, mit nachhause nehmen. So viele, wie ich will, das Geld - das nicht vorhandene - spielt keinerlei Rolle. Ich hielt kurz im Eingangsbereich inne, bevor ich mich für eine der Treppen entschied - eine führte nach unten zu den Kinder- und Jugendbüchern, eine nach oben zur Erwachsenenliteratur, - scannte die Vielzahl der Regale, multiplizierte die Regale mit den darin stehenden Büchern: ich kann. Und dann, wenn ich die Bibliothek wieder verließ, das Gewicht des Rucksacks auf meinen Schultern, in den ich Menschen gepackt hatte, Abenteuer, Liebe, deren Verlust, überhaupt alle Gefühle, unzählige Orte auf meinem Rücken, ich nahm sie einfach mit.
Und traurig war dieser Ort, weil ich sie wieder zurückbringen musste. Und es jedes Mal war, als gäbe ich mit den Büchern etwas von mir zurück, mein Lesen, mein Gelesen-Haben, den Weg, den ich mit dem jeweiligen Buch gegangen war. Suppenflecken, weil ich es unter den Tellerrand geklemmt hatte, Eselsohren sowieso, aber auch meine Empörung, mein Glück, wenn den Protagonist:innen etwas widerfahren war.
Es gab also diesen Ort, an dem die Bücher zuhause waren, und den ich aufsuchen konnte; ich - im Singular. Mit anderen Bibliothekbesucher:innen kam ich nicht ins Gespräch, auch wenn ich sie heimlich beobachtete: was lasen sie wohl, und warum. Wir blieben nicht alleine, wir hatten ja unsere Bücherstapel, mit denen wir diesen Ort verließen, aber wir blieben einzeln.
Es dauerte Jahre, bis ich das Wort “Buchmesse” zum ersten Mal hörte. Ich fuhr mit dem RegionalExpress aus einer schwäbischen Kleinstadt nach Frankfurt, an diesen erträumten Ort, den ich mir so erdacht hatte: Da treffen sich Menschen, die sind wie ich. Die es doch geben musste, Menschen, die in und mit Büchern leben, die aus diesen Büchern sprechen und denken und leben wollen, die die Welt in Büchern zu erkennen und zu verstehen suchen. Erwartungsvoll fuhr ich an diesen Ort, über den “echte” Schriftsteller (ich dachte damals wohl in der maskulinen Form) spazierten, tatsächlich auf denselben Gängen wie ich.
Aber niemand spazierte in Frankfurt. Nicht die “echten” Schriftsteller und die Besucher:innen auch nicht. Die Menschen schienen alle zu eilen, ich wusste gar nicht, wohin, war überfordert von deren Tempo. Die Lesungen waren meistens recht kurz, wie abgebrochen, ich lernte das Wort “anlesen”, als hätte niemand hier genug Zeit für die Bücher. Ich war mehr überrascht als enttäuscht, wie wenig ich diesen Ort als einen der Literatur empfand, als hätte da die Literatur am Wenigsten etwas zu suchen. Ich fuhr mit dem RegionalExpress wieder zurück, müde und auf eine neue Weise einsam. Diese besondere Einsamkeit, nachdem man Träume mit der Realität verglichen hatte; und war immer noch einzeln.
Es dauerte weitere Jahre, bis ich das Wort “Literaturhaus” zum ersten Mal hörte, und mich, noch bevor ich eines betrat, in genau dieses Wort verliebte: Ein eigenes Haus für Literatur. Es war ein Versprechen: So schlecht konnte die Stadt, in die ich gezogen war, und die ich bis dato nicht mochte, nicht sein, wenn sie ein Haus für Literatur beherbergte; ich hoffte, ein Zuhause für mich und für Bücher. Ich erinnere mich an die allererste Lesung in jenem Literaturhaus: wie die Sätze in eine konzentrierte Stille fielen, von uns aufgefangen, die wir zuhörten. Wie das Buch ein anderes wurde, weil es laut gelesen wurde, von jenem, der sich die Sätze erdacht hatte, in seiner eigenen Melodie, und wie ich über diese neue Dimension staunte, die Bücher also auch hatten. Ich erinnere mich, bis heute, an einzelne Fragen, die an jenem Abend an den Autor gestellt wurden, die dem Buch irgendwie hinzugefügt wurden, wie ein Kommentar, eine Ergänzung. Nicht an die Fragen des Moderators erinnere ich mich, sondern an die des Publikums, von Menschen wie mir gestellt. Und wie aufgeregt, aber auch beruhigt ich nachhause radelte, weil ich nun diesen Ort kannte, weil ich jetzt wusste, dass Literatur ein Zuhause hatte, wie die Musik Konzertsäle und Theaterstücke eben Theater, sie hatte ein eigenes Haus.
2. Ich bin nicht unbefangen, wenn ich heute hier spreche, weil ich diesen Ort kenne, dieses spezielle Literarische Zentrum.
Ich weiß noch, wie ich das erste Mal hierher kam, ich glaube, der Zug hatte mal wieder starke Verspätung. Ich wurde deshalb am Bahnhof abgeholt, von dieser sympathischen, gut gelaunten, sehr lebendigen Frau, ich weiß gar nicht, Gesa, erinnerst Du Dich? Ich erinnere mich komischerweise sogar an die Autofarbe, obwohl ich mir selten konkrete Bilder merke. Es wurden hier an jenem Tag Schreibwerkstätten für Schüler:innen aller Schularten vorbereitet, und ich erinnere mich noch an meine Hoffnung, dass das ein Ort sein könnte, an dem alle willkommen sein würden. An dem man nicht schon gelesen haben muss, erst recht nicht einen vermeintlichen Kanon, um selbst Geschichten erzählen zu dürfen. An dem Literatur eine Einladung ist und nicht ein Distinktionsmerkmal.
Ich bin nicht unbefangen, weil ich hier einmal bei einer Veranstaltung über Russlands Krieg gegen die Ukraine sprechen durfte, und einmal über die Unmöglichkeit des Sprechens angesichts des 7. Oktobers und Israels Krieges gegen Palästinenser:innen. Weil ich aus dieser eigenen Erfahrung also weiß, dass Literatur an diesem Ort nicht der Weltflucht dient, sondern im Gegenteil eine Form ist, der Welt zu begegnen, ein Ausgangspunkt, um diese zu betrachten. Dass die Menschen, die hier das Programm gestalten, wissen: Literatur ist mit der Welt unzertrennlich verbunden, weil sie aus ihr, in ihr und für sie entsteht; manche würden sogar wagen zu sagen, um sie zu einer besseren zu machen. Dass diese Menschen wissen, dass wir alle, wir Schreibenden, Programm-Machenden, Lesenden, Zuhörenden Teil dieser Welt sind, an ihrer Gestaltung und Form beteiligt, für sie verantwortlich; sie erinnern uns mit diesen aus der Welt, aus der akuten und aktuellen Wirklichkeit entstandenen Veranstaltungen daran.
Ich bin nicht unbefangen, weil ich an diesem Ort zusammen mit anderen Autor:innen über das “Unbehagen in der Fiktion” nachdenken durfte, über Fragen, die uns als Schreibende treiben und hemmen: Was erzähle ich, wie; was darf, was kann, was muss ich erzählen? Fragen, die unsere Texte besser, weil aufrichtiger machen, im Sinne von: aufrecht. Wir denken meist alleine über diese Fragen nach, einzeln; wir Autor:innen haben nicht viele Orte, häufig nur einen Schreibtisch oder ein Lieblingscafé. Aber zum Beispiel diesen hier, der weiß, dass Bücher kein Produkt sind (oder zumindest nicht nur), dass sie aus einem Prozess entstehen, der nicht auf der ersten Seite beginnt und nicht auf der letzten Seite endet. Dass der Prozess auf Denken, Lesen, Sprechen, auf Austausch beruht, auf Teilen mit anderen, auf Zuhören; dass dem Produkt Buch eine Auseinandersetzung folgen muss, dass diese Prozesse Räume brauchen, Offenheit und Zeit.
Ich bin nicht unbefangen, weil ich über einen längeren Zeitraum regelmäßig hier in Göttingen am Literarischen Zentrum war, um eine Schreibwerkstatt für Schüler:innen zu begleiten. Die Schüler:innen, mit denen ich mich jede sechs Wochen in einen Raum unter dem Dach zurückzog, waren damals in jenem Alter, in dem es vor allem gilt zu gelten. Die richtigen Turnschuhe zu tragen, eine Käppi, die die Augen möglichst verdeckt, nicht zu sehr aufzufallen, solche Dinge. Sie sagten bei unserem ersten Treffen nicht viel, erst recht nicht auf die Frage, ob sie gerne läsen. Aber sie schrieben Geschichten, vorsichtig erst - “ich kann das nicht”, “muss ich das nachher vor den anderen vorlesen?” -, dann mutiger - “darf ich noch fünf Minuten schreiben?” -, bis am Ende jede:r von ihnen einen Roman geschrieben hatte; dann war die Schreibwerkstatt auch zu Ende.
Vor einigen Jahren wurde mir über mehrere Ecken zugetragen, dass einer der Jungen aus jener Klasse Literaturwissenschaft studiere. Dass er ausrichten lasse, diese Schreibwerkstatt, jede sechs Wochen an diesen Ort zu kommen, an dem seine Geschichte, was er sich ausdachte, wie er Sätze baute, was in ihm war, sein Leben verändert habe. In diesen, vielleicht abgegriffenen Worten wurde mir das ausgerichtet, von jenem Jungen, der mit Käppi, die die Augen verdeckte, an diesem Ort saß, und erst einmal nur hoffte, dass er seine Geschichte nicht laut vorlesen müsse.
3. Ich bin nicht unbefangen, weil ich Schriftstellerin bin.
Im Schreiben bin ich meistens alleine: Über Jahre wälze ich Themen, recherchiere Geschichte und Geschichten, forme Sprache, quäle meine Figuren, mich selbst sowie alle, die mich in dem Prozess begleiten, gleichermaßen; beginne den Text immer wieder von vorn, verwerfe, stolpere über Fragen. Irgendwann erscheint im besten Falle ein Buch, ein jedes Mal aufs Neue schockierend kurzes Destillat aus all diesen Jahren. Es hat immer weitaus weniger Seiten als ich geschrieben hatte, und noch mehr Seiten hatte ich mir gedacht. Noch mehr Geschichten, noch mehr Figuren, noch mehr, was es zu sagen, zu erzählen gäbe. Verletzlich kommt mir das Buch vor, wenn es so in die Welt tritt, alleine, wenn es endlich gelesen und sogleich bewertet wird, obwohl wahrscheinlich, ehrlicherweise, etwas anderes zutrifft: Ich bin, wenn es alleine in die Welt tritt, verletzlich. Kann nicht mehr auf meine Figuren aufpassen, auf meine zweifelnd und sorgfältig gebauten Sätze. Bin unsicher: kommen sie ohne mich da draußen zurecht?
Erst an solchen Orten wie dem hier, an denen öffentlich gelesen wird, an denen ich lesen darf, in Literarischen Zentren, Literaturhäusern, in Bibliotheken werde ich ruhig. Wenn ich zuhören darf, wenn ich sehe, wie das Buch Lesenden begegnet, oder andersherum sie ihm. Welche Fragen sie stellen, was es weckt an Emotionen, Gedanken - wenn ich spüre, dass die Lesenden, die Zuhörenden das Buch im Lesen erweitern. Ich lasse es los, damit es mir bei solchen Veranstaltungen in neuer Form, wie verwandelt, wie durch die Eindrücke der anderen ergänzt, begegnet; es ist während Lesungen, während der anschließenden Gespräche, dass ich häufig denke: jetzt, mit diesen Fragen, mit diesem neuen Blick auf den Text hätte ich ihn anders geschrieben; als schrieben die Lesenden und ich das Buch gemeinsam fort.
Und falls das zu entrückt klingt, so hat meine Unbefangenheit, als Schreibende heute hier zu sprechen, eine andere, eine sehr konkrete, sehr substantielle Dimension. Die meisten Schreibenden wären (und sind es häufig) ohne Institutionen wie diese finanziell aufgeschmissen, wir wüssten gar nicht, wie leben, wie schreiben, wenn es nicht diese Orte gäbe, an denen wir unsere Bücher, unsere Gedanken mit Menschen teilen dürfen, die potentielle Lesende sind. Das ist weder entrückt noch schön noch poetisch, das ist unsere Lebensrealität.
4. Ich bin nicht unbefangen, weil es die Lebensrealität gibt, die unser aller. Weil ich ihr weder entrinnen kann noch möchte. Weil ich weiß und nicht vergessen mag, dass jetzt, während ich heute hier spreche, Menschen getötet werden: in Gaza, in der Ukraine, im Sudan und an vielen anderen Orten. Dass jetzt in diesem Moment, Menschen kämpfen, sich verstecken, hungern, flüchten, dass wir mit verantwortlich dafür sind, dass sie das tun müssen, wir sind in all diesen Geschehnissen und Ungerechtigkeiten verwickelt. Dass rechtsradikale, reaktionäre, menschenrechtsverachtende Bewegungen in zahlreichen Ländern, nicht zuletzt hierzulande, mit betäubendem Tempo daran arbeiten - und erschreckend erfolgreich darin sind -, eine Ordnung zu etablieren, die von Hierarchien von Menschengruppen und rassistischen, misogynen, homosexuell- und transfeindlichen Denkmustern charakterisiert sind. Deren Strategie wie ausgesprochenes Ziel es auch ist, eine Vielfalt von künstlerischen Stimmen und divergierenden Meinungen durch eine zensierte, enge Formel dessen zu ersetzen, was künstlerisch oder literarisch wertvoll oder überhaupt erlaubt ist. Sie arbeiten mit Diffamierungen und Diskreditierungen einzelner Institutionen und Künstler:innen daran oder mit dem Entzug öffentlicher Mittel; sie hantieren wie in den USA mit Verboten bestimmter Begriffe in wissenschaftlichen Arbeiten und der Verbannung von Büchern; oder hierzulande mit verklausulierenden Gesetzen wie der Antisemitismus-Resolution, die zu einer stasiähnlichen Überprüfung von Künstler:innen auffordert und die an einem offenen Diskurs interessierte Arbeit von öffentlichen Einrichtungen wie Literaturhäusern, Theatern, Museen und Festivals schwer macht. Sie arbeiten mit Denk- und Sprachverboten, denen eine Vorstellung zugrunde liegt, wie unsere Gesellschaft sich zusammenzusetzen habe, wer sich ihr zugehörig fühlen dürfe und wer nicht - wie unser Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, der die Verwendung von Gendersprache, des Sternchens und des Binnen-i’s, in seiner Behörde untersagen wollte.
Ich bin nicht unbefangen, ich bin Schriftstellerin, ich kann nicht unbefangen sein. Die Kunst- und Meinungsfreiheit sind Voraussetzung für mein Tun, was wäre ich ohne? Schriebe ich dann, hätte ich genug Mut? Ich muss mir diese Frage stellen, ich muss um diese Freiheit fürchten, die uns lange als Selbstverständlichkeit galt, wie auch im Übrigen die Demokratie. Die Furcht ist keine Phrase, sie hat sich breit gemacht, hat sich eingenistet in mir. Nimmt stetig zu: Wenn ich Wahlergebnisse betrachte. Wenn ich lese, dass unser Kulturstaatsminister, „Linke und Rechtspopulisten“, die er in diesem Satz auf eine Stufe stellt, als diskursive Gegner beschreibt, und dass er die Reihe fortsetzt mit „Gutmenschen-Bevormunder und moralische Besserwisser“. Wenn ich also weiß, dass ein Nachdenken über Moral, über das Gut-Sein als Mensch etwas ist, was die Kulturstaatspolitik als Gegnerschaft betrachtet. Wenn ich mit Menschen aus Kunst-, Theater- oder Literaturinstitutionen spreche, die von Vorsicht im Denken und Planen erzählen, das jetzt oft von der Angst mitbestimmt wird, einen Fehler zu begehen, die „falschen” Gäste einzuladen, anschließend Shitstorms ausgesetzt zu sein. Wenn ich weiß, dass Künstler*innen bedroht werden, dass es bei immer mehr kulturellen Veranstaltungen Sicherheitsschutz braucht. Wenn ich die demokratischen Instrumente sehe, mit denen die Demokratie beschnitten werden soll, wenn massive Kulturkürzungen und Mittelentzug auf erstaunlich wenig Widerstand stoßen. Wenn sie hingenommen werden, als sei Kultur ein Bonus; etwas, worauf man jederzeit verzichten kann, im Notfall, zum Beispiel, wenn man Gelder für beispielsweise den Rüstungsetat braucht.
Ich bin nicht unbefangen, ich kann es mir nicht leisten, unbefangen zu sein: zu groß ist die Bedrohung. Deshalb weiß ich so genau, so verzweifelt gar, welch bedeutende Rolle Institutionen wie diese angesichts dieser Bedrohung spielen. Wir entscheiden alle, - die Kunstschaffenden wie die Institutionen -, wie wir mit Entwicklungen wie dem zunehmenden Einfluss, den rechtsextreme Kräfte auf unsere Gesellschaft wie auf die Bedingungen der Kunst nehmen, umgehen. Ob wir ihre Mechanismen akzeptieren, ob wir canceln oder sprechen, ob wir behaupten oder Fragen stellen, ob wir still sind oder Widerstand leisten. Es ist ein Glück, es ist im Ansturm schrecklicher, trauriger, beängstigender Nachrichten eine glitzernde Hoffnung, dass es diese Institutionen gibt, die der Bedrohung, den Kürzungen, den Shitstorms zum Trotz Demokratie als Arbeit begreifen und Kunst und Kultur - und in diesem Fall die Literatur - als einen Ort, an dem die Demokratie verteidigt werden kann und muss. Die Räume bieten, in denen betrachtet, kritisiert, gestritten, ausgehalten wird, in denen unterschiedliche Positionen und Perspektiven zusammenkommen dürfen, in denen Platz für Zwischentöne ist und für Erzählungen unterschiedlichster Klänge. Die sich nicht einschüchtern lassen, die sich trauen, Fragen aufzuwerfen, auf die es keine einfachen Antworten gibt und geben darf, weil die Welt so nicht ist, sie ist nicht einfach. Sie ist nicht eindeutig, obwohl sie von denen, die die Kunstfreiheit und noch mehr Freiheiten beschränken wollen, so gemalt wird, zweifarbig: Gut und böse. Institutionen, die wissen, dass Literatur das Gegenteil dieser Zeichnung ist: sie beschreibt und beherrscht alle Töne, Farbmischungen, auch alle Schatten. Sie erzählt uns, was wir übersehen haben, stellt uns Fragen, sie lässt nicht zu, dass wir vergessen zu fühlen. Sie ist insofern demokratisch, als dass sie uns im besten Fall alle gleichermaßen beinhaltet und uns alle hinterfragt. Institutionen, die mit diesem Wissen agieren, ihr Programm gestalten, Veranstaltungen planen, einladen, weiterdenken, werden zum Glück nie unbefangen sein. Sie sind genau deshalb ein Dorn im Auge jener, die die Freiheit zu denken, zu sprechen, zu schreiben, Programme und Veranstaltungen zu planen, beschränken wollen.
Ich bin nicht unbefangen, wenn ich heute hier gesprochen habe, aber ich möchte auch nicht unbefangen sein. An diesem Ort sowieso nicht, mit diesen Menschen, die ihn zu genau diesem Ort gemacht haben und machen, aber auch nicht in der Welt. Weil Unbefangen-Sein auch hieße, dass ich nicht Teil bin, dass ich nur betrachte, wenn ich schreibe, wenn ich lese, dass ich zu fühlen vergesse, oder auch ein Mensch zu sein, im ursprünglichen Sinne dieses Wortes. Ich finde es angesichts des Zustands der Welt, über die ich schreibe, von der wir lesen, vor der wir manchmal die Augen verschließen wollen oder sogar tun, beruhigend zu wissen, dass es Menschen und Institutionen gibt, die befangen bleiben in ihr, die aus der Welt heraus und für sie schreiben und agieren. Und vielleicht - ich bin aufgeregt und irgendwie gerührt, ich bin demütig, und froh bin ich auch, das zu sagen - vielleicht machen sie sie in kleinen, häufig übersehenen Schritten auch zu einer etwas besseren Welt.
